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Christian Rätsch

»Amanita en Colombia« –
Ein Fliegenpilzfund im Páramo (3000 m) bei Bogotá, Kolumbien




In der entheogenen Szene herrscht die Annahme, daß der Fliegenpilz (Amanita muscaria) zwar weltweit verbreitet ist, aber in Südamerika nicht vorkommt.[1] Manche Autoren räumen allerdings ein, daß es den Fliegenpilz heute zwar im nördlichen Andenraum gibt, aber ob er dort schon in präkolumbianischer Zeit verbreitet war, ist noch ungeklärt (SCHULTES und BRIGHT 1979: 123). Ich habe immer wieder gehört, daß in den Anden Fliegenpilze gesichtet worden sein sollen, aber nirgends Belege dafür gefunden.[2]

Im Rahmen einer ethnobotanischen Forschungsreise (März-April 2004) nach Kolumbien (speziell Nariño, Putumayo, Sibundoy) hatten wir, meine Frau Claudia Müller-Ebeling, unser holländischer Freund Arno Adelaars und ich, die überraschende Chance, Fliegenpilze in den hohen Anden bei Bogotá zu finden, zu photographieren und zu sammeln.

Bogotá, die Hauptstadt von Kolumbien, liegt in einem fruchtbaren Hochtal in den nördlichen Anden, auf etwa 2600 Metern Höhe. Das einstige »Athen Amerikas« erstreckt sich heute fast durch das gesamte Tal, wo dereinst Kartoffeln, Mais und Gemüse in hervorragender Qualität angebaut wurden. Heute hat die Stadt etwa acht Millionen Einwohner. Die nicht besiedelten Gebiete des Hochtales produzieren keine Nahrungsmittel mehr, sondern dienen der Aufzucht von Schnittblumen für den internationalen Markt. Dadurch ist der Boden mit Pestiziden vergiftet. Der Autoverkehr in der Stadt (»kat« ist gänzlich unbekannt!) verseucht zusätzlich die Luft. Viele Einwohner von der La gran ramera, »der großen Hure« Bogotá, flüchten am Wochenende in die nahegelegenen Bergregionen in der Gegend von La Calera (ca. 50 km entfernt).
La Calera ist ein kolonialzeitliches Städtchen, das noch etwas vom alten Charme der Jahrhundertwende behalten hat. Es ist umgeben von grünen Weiden, auf denen gesunde und prächtig aussehende Alpenkühe grasen. Südöstlich davon liegt der Nationalpark Chingaza (504 km2), auf über 3000 Metern Höhe. Auf den dortigen Bergketten gibt es ab ca. 3200 m Páramogebiete, die schon Alexander von Humboldt (1769-1859) kannte.

Páramo ist in den nördlichen Anden die Bezeichnung für eine ganz spezielle, einzigartige Hochlandflora, die es nur zwischen 3200 bis 3900 Metern Höhe gibt (GUERRERO und VARGAS 2003). Páramogebiete gibt es nur in den Anden von Venezuela, Kolumbien und im nördlichen Ecuador. Die dominante und für das Páramo charakteristische Pflanzengattung[3] ist Espeletia, Asteraceae/Compositae, die im lokalen Spanisch frailejón genannt wird. Der Name leitet sich von spanisch fraile, »Mönch«, ab. Man assoziierte die oft nebelumschleierten, in Gruppen wachsenden Pflanzen mit den schemenhaften Erscheinungen von umherziehenden oder irrenden Mönchen.

Die Páramoregionen in diesem Naturschutzgebiet sind umsäumt oder durchzogen von Pinienwäldern. Diese Pinien, hauptsächlich die Art Pinus chiapensis (MART.) ANDRESEN [syn. Pinus strobus chiapanesis MARTINEZ], sind dort im Rahmen von Wiederaufforstungsprogrammen (CAMCORE) angepflanzt worden. Sie stammen aus Mexiko[4], einem Land, das reich an einheimischen Pinienarten ist (MARTINEZ 1992, PERRY 1991: 54ff.). Unter Botanikern herrscht die Meinung vor, daß die Gattung Pinus in der Neuen Welt nur in Nordamerika, Mexiko und Teilen Zentralamerikas (El Salvador, Nicaragua, Honduras) natürlich verbreitet ist. Manche nehmen jedoch an, daß sich Pinien auch im nördlichen Südamerika selbständig verbreitet haben könnten (vgl. PERRY 1991: 54ff., 146). Mit ihnen könnte sich auch Amanita muscaria verbreitet haben.

Jedenfalls gibt es überall auf der Welt, wo Pinien vorkommen, den kosmopolitischen Fliegenpilz (RÄTSCH 1995). Denn die Pinien gehören zu seinen bevorzugten Wirtsbäumen. Deshalb hat der Botaniker und Kolumbienexperte Professor Dr. Richard Evans Schultes (1915-2001) die These aufgestellt, daß sich in Kolumbien der Fliegenpilz erst ausgebreitet hat, als dort die mittelamerikanischen Pinien angepflanzt wurden.[5]

Wie dem auch sei, es gibt sie tatsächlich – Fliegenpilze in Südamerika! – Wir haben sie bei einem Ausflug (17. April 2004) in den Páramo von Chingaza nahe von Bogotá zahlreiche Exemplare gefunden. Als wir zusammen mit dem ethnotherapeutisch arbeitenden Arzt Dr. Fabio Ramirez ins Hochland fuhren, erzählte er uns von einem kleinen Pinienwald, in dem er schon zuvor Fliegenpilze gesehen habe. Dort wollten wir nachschauen, obwohl April war. Der Pinienhain liegt direkt am Páramo, also auf fast 3200 m Höhe. Der Hain scheint von Menschen angelegt worden zu sein; die Art glich der südmexikanischen Pinus chiapensis. Der Boden bestand aus dicken Schichten herabgefallener Piniennadeln und gab beim Begehen federnd nach. Da es die zwei Tage vor unserem Ausflug stark geregnet hatte und nun die Sonne schien, waren die klimatischen Verhältnisse für das Austreiben der Fliegenpilzfruchtkörper geradezu ideal.

Sobald wir denn Pinienhain betraten sahen wir überall prächtige echte Fliegenpilze, und zwar in allen Stadien seiner Fruchtkörperausbildung: als »Hexenei«, als »Phallus« mit rundem Kopf, als großer Schirm und als Kelch für »Zwergenwein«. Überall zwischen den Pinien trieben sie leuchtend rot aus dem weichen Untergrund. Oft waren sie noch von der dichten Schicht aus Piniennadeln bedeckt. Aber die Kraft der herausschießenden Fruchtkörper hob die Nadelschicht weit empor.

Wir haben sofort zahlreiche Fotos gemacht und mehrere Fruchtkörper gesammelt. Um unseren sensationellen Fund irgendwie beweisen zu können, haben wir einige Fruchtkörper auf die Stoßstange unseres Jeeps gelegt, so daß sie zusammen mit dem Bogotá-Nummernschild photographiert werden konnten. Zudem legten wir frische Fliegenpilze auf die weichen Blätter der typischen Páramopflanzen. Außerdem habe ich einen Sporenabdruck genommen.

Die gesammelten Fruchtkörper habe ich dann auf Zeitungspapier in die stechende Sonne gelegt. Da hier die Luft sehr dünn und die UV-Strahlung der Sonne sehr intensiv ist, begann der Trockenprozeß sehr schnell. Schon nach etwa einer Stunde nahm die Oberhaut der Hüte ein seidiges Aussehen an. Nach kaum zwei Tagen waren die Pilzkörper vollkommen getrocknet.

Fabio Ramirez hat die Sammlung behalten (wir mußten leider am nächsten Tag nach Europa zurückreisen) und an sich selbst erprobt. Er hat später berichtet, daß er angenehme, recht visionäre Erlebnisse dadurch hatte. Damit ist klar, daß diese kolumbianischen Fliegenpilze nicht nur existieren, sondern auch definitiv psychoaktiv sind.

Allerdings sind bisher aus Südamerika keine ethnographischen Berichte über den schamanischen Gebrauch von Fliegenpilzen bekannt geworden (RÄTSCH 1995). Der kolumbianische Schamane und Ayahuasquero Kajuyali Tsamani (= William Torres) hat uns berichtet, daß der schamanische und rekreationale Gebrauch von Psilocybe spp. im heutigen Kolumbien zunimmt. Er vermutet ebenfalls, daß psychoaktive Pilze bereits in präkolumbianischer Zeit bekannt waren und von Schamanen genutzt wurden.[6] Er selbst hat noch keine Erfahrungen mit Fliegenpilzen gemacht, schließt aber nicht aus, daß es einen bisher geheimgebliebenen Fliegenpilzkult in Kolumbien gibt.

Unser Fliegenpilzfund beim Páramo ist lediglich ein Beweis für sein natürliche Vorkommen in den nördlichen Anden, jedoch kein Beleg für einen einheimischen schamanischen Gebrauch in Kolumbien. So kannte niemand der von uns Befragten (u.a. Fabio Ramirez, William Torres) einen volkstümlichen Namen für den Fliegenpilz. Er wird im lokalen Spanisch schlicht amanita genannt. Fabio erzählte uns, daß der Fliegenpilz heute in Kolumbien als »Märchenpilz« bekannt ist, führt das aber auf den Einfluß europäischer Märchen und Kinderbücher zurück.

Erst weitere Forschungen können zeigen, ob der Fliegenpilz in Kolumbien ethnomykologisch bedeutsam ist und als schamanisches Entheogen benutzt wird.


Literatur


BAUER, Wolfgang, Edzard KLAPP und Alexandra ROSENBOHM
2000 Der Fliegenpilz: Traumkult, Märchenzauber, Mythenrausch, Aarau: AT Verlag.

GUERRERO, Eduardo und William VARGAS
2001 Plantas del Páramo de Anaime, Cordillera Central, Andes Colombianos, Kolumbien: Corporación Semillas de Agua (daviddiaz@007mundo.com).

MARTINEZ, Maximino
1987Catálogo de nombres vulgares y científicos de plantas mexicanas. México, D.F.: Fondo de Cultura Económica.
1992 Los pinos mexicanos (3. Auflage), México, D.F.: Ediciones Botas.

PERRY, Jesse P., Jr.
1991 The Pines of Mexico and Central America. Portland, Oregon: Timber Press.

RÄTSCH, Christian
1995 »Äk kib lu’um: ‚Das Licht der Erde‘ – Der Fliegenpilz bei den Lakandonen und im alten Amerika«, Curare 18(1): 67-93.

REICHEL-DOLMATOFF, Gerardo
1989 Orfevrerie et chamanisme: Un étude iconographique du Musée de L’Or, Medellín: Editorial Colina.

SAMORINI, Giorgio
2001 Funghi allucinogeni: Studi etnomicologici, Dozza (BO): Telesterion.

SCHULTES, Richard Evans und Alec BRIGHT
1979 »Ancient Gold Pectorals from Colombia: Mushroom Effigies?«, Botanical Museum Leaflets 27(5-6): 113-141.

SCHULTES, Richard E. und Albert HOFMANN
1980 The Botany and Chemistry of Hallucinogens, Springfield, Ill.: Charles C. Thomas.

WASSON, R. Gordon
1967 »Fly Agaric and Man«, in: D.H. EFRON (Hg.), Ethnopharmacologic Search for Psychoactive Drugs, Washington: U.S. Government Printing Office, S. 405-414.


Legenden zu den Abbildungen


((1)) Der frailejón oder Espeletia hartwegiana CUATREC. wird über 12 m hoch und zeichnet sich durch die flauschigen, lanzettförmigen Blätterkränze aus. Diese Blätter kann ein Gebirgswanderer zu einem frostschützenden Bett aufhäufen, das genug Schutz für eine kalte Nacht bietet. Frailejón scheidet auch ein Harz aus, daß volksmedizinisch gegen Rheuma und Bronchitis verwendet wird (GUERRERO und VARGAS 2003: 29).
(Foto: C. Rätsch)
((2)) Fliegenpilz im Pinienhain beim Páramo, auf über 3000 Metern Höhe.
(Foto: C. Rätsch)
((3)) Fruchtkörper vom Fliegenpilz in unterschiedlichen Wachstumsstadien (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: C. Rätsch)
((4)) Phallusförmiger Fruchtkörper vom Fliegenpilz (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: C. Rätsch)
((5)) Der Fruchtkörper eines Fliegenpilzes stemmt die Bodenschicht von Piniennadeln hoch (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: C. Rätsch)
((6)) Christian Rätsch beim Photographieren des sensationellen Pilzfundes (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: Claudia Müller-Ebeling)
((7)) Christian Rätsch mit Fliegenpilz (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: Claudia Müller-Ebeling)
((8)) Die drei erfolgreichen »Fliegenpilzjäger« Arno Adelaars, Christian Rätsch und Claudia Müller-Ebeling (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: Fabio Ramirez)
((9)) Der Beweis: Frische Fliegenpilze auf der Stoßstange eines in Bogotá zugelassenen Fahrzeugs (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: C. Rätsch)
((10)) Die Fliegenpilze, gebettet in die flauschigen Blätter der Páramopflanze Frailejón (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: C. Rätsch)
((11)) Christian Rätsch erklärt Fabio Ramirez, wie die Fliegenpilze richtig getrocknet werden (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: Claudia Müller-Ebeling)
((12)) Die »Beute«... (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: C. Rätsch)
((13)) Ein Fliegenpilzhut in leichter Kelchform (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: C. Rätsch)
((14)) Unteransicht des Fliegenpilzhutes (Páramo, Kolumbien; 17.4.2004).
(Foto: C. Rätsch)


[1] Der Fliegenpilz Amanita muscaria (L. ex FR.) [1821] HOOKER (Amanitaceae – Knollenblättergewächse) ist ein Pilz mit weltweiter Verbreitung und hoher kultureller Beachtung. Er wurde (und wird) als rituelles Rausch mittel im Schamanismus, in der Volksheilkunde als Medizin und als Symbol und Wertobjekt benutzt (BAUER et al. 2000, WASSON 1967).
[2] Kürzlich (10/2004) erzählte mir Jonathan Ott, daß er in der Nähe von Bogotá Fliegenpilze gesehen hätte.
[3] Weitere für das Páramo typische Pflanzen sind Bromeliaceaen aus der Gattung Puya, verschiedene Ericaceae, einige Nachtschattengewächse (Cestrum sp., Solanum stenophyllum DUNAL), Fuchsien, Tillandsien, Orchideen (z.B. Oncidium jamiesonii LINDL. et PAXT) und die psychoaktive Schamanenpflanze Desfontainia spinosa RUIZ et PAVÓN, Desfontainiaceae (GUERRERO und VARGAS 2003).
[4] Den Fliegenpilz Amanita muscaria gibt es nach MARTINEZ fast überall in Mexiko (1987: 875). Im mexikanischen Hochland ist der Amanita muscaria ssp. flavivolvata SING. gut dokumentiert (auch im Hochland von Guatemala; vgl. RÄTSCH 1995).
[5] »Amanita muscaria has recently been introduced to Colombia, presumably with pines set out in reforestation programs.« (SCHULTES und HOFMANN 1980: 44)
[6] Aus Kolumbien sind zahlreiche präkolumbianische Goldobjekte (Darién-Stil; ab 200 n. Chr.) bekannt, die sogenannten »Telephonklingel-Götter«, die gewöhnlich mit dem schamanisch-rituellen Gebrauch von psychoaktiven Pilzen assoziiert werden (vgl. REICHEL-DOLMATOFF 1989: 143). Meist wird vermutet, daß es sich um Psilocybe sp. gehandelt habe (vgl. SAMORINI 2001: 16f.), oder um Amanita- bzw. Boletus-Arten. Allerdings sind die Darstellungen derart stilisiert, daß eine mykologische Identifikation unmöglich erscheint (SCHULTES und BRIGHT 1979).

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