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Christian Rätsch
 

Ayahuasca: die Reise zum Ursprung der Kultur


»Keine äußerliche Kulthandlung bietet ein so eindringlich als Realität geschautes Drama wie die sich gleichermaßen vor dem inneren und äußeren Auge vollziehenden Mythen im Ayahuasca-Rausch.«
WALTER ANDRITZKY
(1989: 194)
 

 

Der Zaubertrank der Schamanen

Ayahuasca, der psychoaktive, vi­sionäre und emetische »Zaubertrank« vom Amazonas, steht im Zentrum des Scha­manismus vieler dort ansässiger Indianerstämme.
 

Ayahuasca ist unter folgenden Namen bekannt:

Ambihuasca, Ambiwáska, Ayahuasca (Quetschua »Ranke der Seelen«) Ayawáska, Biaxíi, Cají, Caapi, Calawaya, Camaramti (Shipibo), Chahua (Shipibo), Cipó, Daime, Dapa, Dapá, Djungle Tea, Djunglehuasca, Doctor, Dschungel-Ambrosia, El remedio (Spanisch »das Heilmittel«), Hoasca, Honi, Iyaona (Zapara), Kaapi, Kahi, Kahpi, La droga (Spanisch »die Droge«), La purga (Spanisch »das Reinigende«), La soga, Masha (Shipibo), Metí, Mihi, Mii (Huaorani), Moca jene (Shipibo »bittere Brühe«), Muka dau (Cashinahua »bittere Medizin«), Natem (Achuar), Natema, Natemá, Natemä, Nepe, Nepi, Nichi cubin (Shipibo »gekochte Liane«), Nishi sheati (Shipibo »Lianengetränk«), Nixi Honi, Nixi paé, Notema, Ohoasca, Ondi (Yaminahua), Pilde, Pildé, Pinde, Pindé, Rao (Shipibo »Medizinalpflanze«), Remedio, Sachahuasca, Santo Daime, The brew, Uni (Conibo), Vegetal (Brasilianisch »Gemüse«), Yagé, Yajé, Yaxé
 
Bei den Siona und Secoya, die im ecuadorianischen Amazonas-Tiefland leben, heißt der Schamane yagé unkuki, »der Ayahuasca-Trinker«. Der Schamane der benachbarten Cashinahua wird moca-ya, »einer, der Ayahuasca hat«, genannt. Der Schamane der im peruanischen Amazonas-Tiefland heimischen Shipibo-Indianer wird als nishi sheamis, »Ayahuasca-Trinker« bezeichnet. Daraus hat sich im lokalen Spanisch das Wort ayahuasquero – heute meist als »Ayahuasca-Schamane« übersetzt – entwickelt. Ein Mensch wird zum Schamanen, wenn er von den Pflanzengeistern dazu berufen wird – entweder im Traum oder in einer Ayahuasca-Vision.[1]

Obwohl in der Gegend um die peruanische Dschungelstadt Pucallpa (Laguna Yarinacocha, Río Ucayali) fast jeder Mensch, ganz gleich ob Indianer oder Mestize, Ayahuasca-Erfahrungen gemacht hat, werden doch nur wenige Ayahuasca-Trinker zu Schamanen. Der Schamane bezieht seine schamanische Heilkraft (ani shinan) von seinem Wissen (onanti), daß er durch seinen häufigen, mitunter täglichen Ayahuasca-Genuß erhält. Manche Ayahuasqueros verfügen über eine geradezu unglaubliche Erfahrung. So trinkt Guillermo Arévalo seit über 25 Jahren fast täglich seinen legendären und höchstpotenten Trank, während Do Agustín Rivas über 3000 mal Ayahuasca genommen hat!

In Pucallpa gibt es eine Reihe von sehr angesehenen Mestizen-Ayahuasqueros, die Ayahuasca-Therapien auf einem synkretistischen Hintergrund ausüben.[2] Auch die peruanischen Mestizo-Ayahuasqueros achten die Ayahuasca-Pflanzen als »Lehrmeister« (plantas maestras) ihrer Heilkunst. Besonders ein­drucksvoll sind die Darstellungen solcher »Meisterpflanzen« auf den Malereien des ehemaligen Ayahuasqueros Pablo Amaringo. Er bildet auf seinen visionären Bildern die ganze Aya­huasca-Mythologie, auch die synkreti­stischen Elemente, die Regenwald-Pharmakopöe und die andere Wirk­lichkeit des schamanischen Univer­sums dar (LUNA & AMA­RINGO 1991).
 
 

Zur Ayahuasca-Chemie

Der Ayahuasca-Trank ist eine einzigartige pharmakologische Kombination aus der harmalinhaltigen Ayahuasca-Liane Banisteriopsis caapi  und den DMT-haltigen Chacruna-Blättern (Psycho­tria viridis). Harmalin ist ein MAO-Inhi­bitor; er hemmt die Auschüttung des körpereigenen Enzyms Monoaminooxidase (kurz: MAO). Die MAO baut normalerweise den visionär-psychedelischen Wirkstoff DMT (= N,N-Dimethyltryptamin) ab, noch bevor er über die Blut-Hirn-Schanke in das zentrale Nervensystem eindringen kann. Nur durch diese Kombination von Wirkstoffen kann der Trank seine bewußtseins­erweiternde Wirkung ausüben und Visionen auslösen.
 

 Die Kultur der Ayahuasca-Menschen

»Dort, in den Welten der Götter,
werde ich euch lehren.
Wo die Welt mit Musterstreifen verziert ist...«
Ayahuasca-Lied der Shipibo
(ILLIUS 1991: 313)

 
Der Ayahuasca-Schamanismus wird bis heute von den Shipibo-Indianern gepflegt und als kostbares Erbe altindianischer Weisheit gehütet. Die Shipibo-Conibo siedeln im peruanischen Ucayali-Gebiet. Das fried­liche Volk umfaßt etwa 28000 Menschen. Sie leben vom Fischen, Jagen, Sammeln und vom Feldbau. Sie kultivieren Maniok, Mais, Bananen und verschiedene Knollengewächse. Die Männer ziehen auf die Jagd in die unendlichen Weiten des Amazonas-Regenwaldes oder fischen von ihren wendigen Einbäumen. Nur die Frauen betätigen sich als Töpfer, Weber, Stoffmaler und Kunsthandwerker.

Alle materiellen Kulturgüter werden von den Frauen mit den soge­nannten quené verziert. Die quené sind charakteristische Muster, die auf vereinfachte Weise die unter Ayahuasca-Einfluß sichtbaren geometrischen und graphischen Strukturen, Energielinien und psychedelischen Muster andeuten. Die quené sind aber mehr als nur Zierde oder Ornamentierung; sie stellen ein Kommunikationssystem, eine Art Schrift, als Medium mit der an­deren Wirklichkeit, dar. So lernen die Schamanen von den Tieren des Waldes, z.B. vom Kolibri, die Bedeutungen der Muster. Der Kolibri (pino ehua) gilt als besonders begabter Maler und Bote aus der »wahren Wirklichkeit«; er zieht die Muster mit seinem Schnabel:

»Die Kolibris haben Muster,
die goldenen Kolibris haben Muster,
an den Spitzen ihrer Schnäbel haben sie Muster.
Damit lasse ich sie den Körper reinigen.
Eine mächtige Bläte!
Eine mächtige Ayahuasca-Blüte.«
(Ayahuasca-Gesang, n. ILLIUS 1991: 61)


Der Kolibri ist ein wichtiger Lehrer der Schamanen und Künstlerinnen:

»Im Kern ist die Shipibo-Conibo-Therapie eine Sache der Anwendung eines visionären Designs in Verbindung mit der Wiederherstellung der Aura. Da sich alle Individuen seit der frühen Kindheit therapeutischer Behandlung unterziehen, kann man davon ausgehen, daß sich jede Person mit den Design-Mustern durchtränkt fühlt. Die Muster sind dauerhaft und bleiben sogar nach dem Tod bei der Seele einer Person und helfen ihr, sich als Shipibo-Conibo in der anderen Welt zu identifizieren.« (GEBHART-SAYER 1985: 144f.)

Die geistige und materielle Kultur der Shipibo ist total von Ayahuasca geprägt bzw. durchtränkt. Ihre Gesänge handeln von den Erfahrungen unter Ayahuasca-Einfluß. Ihre Kunst ist ein ständiger Versuch, das durch Ayahuasca Geschaute graphisch mitzuteilen; es somit in den Alltag, in die Alltags-Wirklichkeit hinüberzubringen, ja, den Alltag mit der visionären Ayahuasca-Welt zu erfüllen und zu bereichern. Und das seit alters her: »Gute quené zu besitzen, bedeutet, Shipibo-Conibo zu sein.« (ILLIUS 1991: 172)

Die Shipibo sind echte »Ayahuasca-Menschen«. Als ich Alberto, einen älteren Schamanen in dem Ort San Francisco (an der Laguna Yarinacocha) nach der Religion der Shipibo fragte, sah er mich mit erstauntem Lächeln an und antwortete: »Religion? Wir haben keine Religion; wir trinken Ayahuasca«. D.h. die Shipibo verzichten auf Priester, die Gottes Wort verkünden und teuer verkaufen. Stattdessen trinken sie ihren heiligen Trank und erfahren die Göttlichkeit des Waldes, des Wassers, der Sterne, der Pflanzen, Tiere und Menschen. Das Trinken von Ayahuasca stellt die eigentliche Therapie dar. Wenn man Ayahuasca trinkt wird man direkt ins Herz der Dinge geführt und vom Geist des Waldes empfangen. Von ihm erhält man Wissen, Gesundheit und Liebe.

»Gesundheit bedeutet für den Shipibo-Conibo vor allem, mit seinen Mitmenschen in Frieden und Harmonie zu leben, ein ebenso gesundes geistiges wie physisches Leben zu führen«, erklärt der für seine besonders starke Ayahuasca berühmte Schamane Guillermo Arévalo (1989: 179). Zur Heilung einer Krankheit müssen deshalb auch immer sowohl der Körper als auch der Geist behandelt werden. Dafür gilt den Shipibo der geheimnisvolle Ayahuasca-Trank als ideale Medizin. Ayahuasca hat zum einen eine extrem starke psychoaktive Wirkung auf den Geist bzw. das Bewußsein, welche sich in fantastischen Visionen und magische Reisen in andere Welten ausdrückt. Andererseits wird der Körper durch den bitteren, adstringierenden Trank derart in Aufruhr versetzt, daß sich die Organe durch heftiges Erbrechen und plötzliche Durchfälle von allen Krankheitskeimen befreien. Ayahuasca ist kein Hausmittel, es ist das mächtigste Instrument im traditionellen Schamanismus der Amazonas-Indianer. Ayahuasca ist auch keine »sanfte Medizin«; Ayahuasca ist drastisch und extrem; knallharte Pharmakologie.

Für die Shipibo-Schamanen ist Ayahuasca oder moca jene, »bittere Brühe«, untrennbar mit dem Regenwald verbunden; Trank gilt als »Essenz des Waldes«. Durch die Kraft der Ayahuasca sieht der Schamane die Geistwesen (yoshinbo) oder »Pflanzenmütter«, die in den Pflanzen und Tieren des Waldes, aber auch in den angebauten »Meister- oder »Lehrer«-Pflanzen, wie z.B. Tabak (Mapacho) und Ipadú (Coca), sind. Mit ihnen kom­muniziert er, von ihnen erhält er das Wissen um ihr innerstes Wesen. Er lernt so die Bedeutung jedes einzelnen Tieres, jeder einzelnen Pflanze, jeden einzelnen Pilzes, versteht warum jede Art ihren notwendigen Platz im »Kreis des Leben­digen« hat. Von den Baumgeistern kann man auch Gesänge empfangen oder erlernen. Es gehört zu den kulturell geförderten Zielen, daß man als Individuum bei einer Ayahuasca-Zeremonie einen eigenen, ganz persönlichen Gesang empfängt, der einem bei späteren Ritualen Kraft verleiht und die Zentriertheit bewahrt, sowie die Visionen strukturiert und deutlicher erscheinen läßt.

Besonders wichtig für die Reise in das Land der Visionen ist der shono, der Weltenbaum, bei den Shipibo meist als Lupuna bezeichnet, dem höchsten Dschungelriesen (bis 50 m hoch), gedeutet.[3] Wenn der Schamane auf die Reise geht, sieht er eine Treppe, die am Stamm des Weltenbaumes hochläuft. Er schreitet auf ihr durch den Baum hindurch in die heilige Welt des Waldes, oder auch durch den hohlen Stamm in das Totenreich acuron. Durch den Stamm des Weltenbaumes erreicht er ebenfalls die Dörfer der Himmelsgeister, und schließlich die Spitze des Universums. Als besonders gefährlich gilt die Reise zu der jenseitigen Welt acuron, die von einer riesigen Anaconda beherrscht wird. Der Eingang wird von einem gewaltigen Stachelrochen, ihui, gebildet. Der große Süßwasserfisch liegt über einer Mulde, die mit kostbaren Edelsteinen und Gold gefüllt ist. Wenn der reisende Schamane acuron betreten will, muß er sich zum einen vor dem Maul des Stachelrochens schützen, zum anderen sich nicht von den verlockenden Reichtümern versuchen lassen. Das finstere Reich acuron ist der Ort, an den das Traumego (caya) schlafender Menschen reist. Manchmal bleibt es dort gefangen; bei einem derartigen Verlust wird der betroffene Mensch krank. Dann muß der Schamanen – natürlich mit Hilfe von Ayahuasca – ebenfalls dorthin reisen und das Seelenteil zurückerobern. Dazu erhält der Schamane von der Ayahuasca das »Nacht-Licht«; es bringt Helligkeit in die Dunkelheit, es befähigt den Schamanen, in der Finsternis zu sehen und zu handeln.

Heilen mit Ayahuasca

»Ayahuasca ist ein Auflöser von Problemen.«
DON AGUSTÍN RIVAS
(in einem Radiointerview,
Österreichischer Rundfunk, 6/94)

 
Die Shipibo-Schamanen verlassen sich vollständig auf ihren Ayahuasca-Trank. Er hat sich über undenkliche Zeiten bewährt. Noch niemals ist irgendjemandem ein echtes Leid durch seinen Genuß wider­fahren. Ayahuasca ist der eigentliche Heiler; der Schamane bietet ledig­lich seine Hilfestellung an. Der Schamane strukturiert das nächtliche Ritual (Vollmondnächte gelten als besonders »stark«). Er inszeniert die kollektive Reise in die andere Welt. Die Teilnehmer bilden einen Kreis, meist im Freien auf einem Rasen oder einer Lichtung, manchmal unter einem Dach, seltener in einem Haus. Der Schamane teilt jedem Teilnehmer eine angemessene Dosis zu, nachdem er den Trank mit Gebeten und Tabakrauch geweiht hat. Er trinkt selbst Ayahuasca und bietet es auch seinen Gehilfen und Sängern ordentliche Portionen an. Die Schamanen müssen Ayahuasca zu sich nehmen um wirklich sehen zu können, was mit den Teilnehmern bzw. Patienten los ist. Wenn alle ihre Dosis eingenommen haben, geht der Schamane oder der Sänger mit einer Tabakspfeife, gestopft mit dem einheimischen, nikotinreichen Mapacho-Tabak, im Kreis herum und bläst jedem Teilnehmer eine Rauchwolke auf den Kopf. Dadurch soll die Trennung zwischen den Welten durchlässig gemacht werden, sowie der Teilnehmer von negativen Energien befreit werden.

Wer Ayahuasca trinken will, muß die eigene Verantwortung übernehmen. D.h., er muß sich aus freien Stücken der rituellen Behandlung anvertrauen. Er muß begreifen, daß er in Bezug auf seine Leiden und Krankheiten ebenfalls Selbstverantwortung überneh­men muß. Der Kranke ist es, der zu handeln hat, nicht der Schamane. Der Ayahuasca-Schamane hilft dem Kranken, wenn er es für nötig hält. Der Schamane überläßt es aber seinem Patienten, mit Hilfe der eigenen Visionen sein Problem zu erkennen. Außerdem ist Ayahuasca ein Mittel der Selbsterkenntnis; ebenso wie ein Zugang zum Jenseits: »Menschen, die Ayahuasca, Tabak oder andere Pflanzen konsumieren, gewinnen Einfluß auf die Geister des Jenseits, z.B. auf die schwarzen Schatten Verstorbener, auf tausendjährige Geister oder auch auf boshafte Naturgeister. Die magische Welt der Shipibo-Conibo kennt eine Vielzahl halb­göttlicher guter und schlechter Geister. Die guten bekämpfen die Krank­heiten und Schäden, die von den schlechten verursacht werden«. Darin sieht Guillermo Arévalo eine der herausragenden Qualitäten der Ayahuasca (1989: 181).

Der Shipibo-Schamane benutzt während seiner Zeremonie als wichtigstes Werkzeug seiner Kunst bestimmte Gesänge (huehua) und gepfiffenen Melodien.[4] Sie strukturieren die psychedelische Erfahrung der Teilnehmer.

Bei den Shipibo werden gewöhnlich drei Gesänge[5], die vor allem der Erzeugung und Nutzung von Obertönen dienen, vorge­tragen. Der erste Gesang öffnet die Tore zur visionären Welt:

»Die Welt des Lichts öffnet sich.
Dort habe ich Freunde.
Ich lasse euch heilen...«
(ILLIUS 1991: 319f.)


Der zweite Gesang bewirkt Erbrechen, Durchfall und allgemeine Katharsis. Dieser Gesang ist therapeutisch am wichtigsten, er dient der Reinigung von Körper und Geist. Vor allem wird das Erbrechen durch messerscharfe Obertöne stimuliert.

Der dritte Gesang führt die Teilnehmer zu sich selbst zurück, zurück in die »nor­male«, »gewohnte« Welt. Haben noch einige Teilnehmer an dem Ritual Probleme, werden sie gesondert behandelt, meist besungen oder mit ätherischen Ölen oder billigen Parfüms bestäubt.

Aber »in komplizierten Behandlungsfällen bittet der Schamane den Pflanzengeist, die Krankheit zu bekämpfen. Hierfür sind gewisse Vorleistungen an den Pflanzengeist erforderlich, spezielle Regeln zu beachten: z.B. Verzicht auf Geschlechtsverkehr, auf Essen und Trinken (Abstinenz von Salz und Chilipfeffer), sich während der Behandlung zurückziehen, um nicht gesehen zu werden, ebenso wie beim Sammeln oder bei der Ver­ehrung der Pflanze«, kommentiert Guillermo Arévalo diese Aktivitäten. Er hat in 25jähriger Praxis als Ayahuasquero gelernt, daß er sich auf die »Meisterpflanzen« verlassen darf:

»Noch existiert die zeremonielle Praxis, insbesondere mit Ayahuasca, aber auch mit Toe [canachiari auf Shipibo = Engelstrom­pete; Brugmansia suaveolens]. Tabak [rome = Nicotiana tabacum] ist ein weiterer Bestandteil von Mischun­gen aus Meisterpflanzen, der hilft, die Wirkung zu beschleunigen. Diese Meisterpflanzen helfen dem Er­krankten, positive Energien zurückzuge­winnen und von physischen und psychischen Krankheiten geheilt zu werden. Der geistige Teil der Meisterpflanzen spielt hierbei eine beson­dere Rolle.« (ARÉVALO 1989: 181)[6]

Die Schamanen des amazonischen Regenwaldes haben über die Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg zahlreiche Pflanzen mit stark pharmakologischen Wirkungen mit Hilfe der Ayahuasca entdeckt und oft sehr erfolgreich eingesetzt. Bei der Behandlung von Patienten mit bestimmten Krankheiten wird die Ayahuasca für den Kranken mit einer für ihn geeigneten Heilpflanze zubereitet. Im Ritual tritt der Patient nicht nur dem Geist des Waldes gegenüber, zu­sätzlich zu der Katharsis wird sein Körper von dem Heilkraut durchspült. Es heißt, der Ayahuasca-Trank würde zudem die Heilwirkung der hinzu­gefügten Pflanzen potenzieren.[7]

Die Heilkraft des Ayahuasca liegt wahrscheinlich in der Offenbarung der visionären Welt und der damit verbundenen Schau vom Ursprung der eigenen Kultur.
 
Ayahuasca übt zunehmend eine starke Faszination aus. Menschen verschiedenster Herkunft, Profession und Weltanschauung können vom Zaubertrank der peruanischen Schamanen profitieren: »In Peru gibt es viele Intelektuelle, die Ayahuasca angewendet haben, um sich künstlerisch inspirieren zu lassen, und im Ausland gibt es Psychiater und Chirurgen, die diese Pflanze anwenden, um den Erfolg ihrer Operationen zu sichern. Heute werden auf der ganzen Welt Forschungen durchgeführt, um mehr über dieses erstaunliche Halluzinogen, das man Ayahuasca nennt, zu erfahren.« (RIVAS 1989: 183)

Ayahuasca-Ritualstruktur der Shipibo


 Vorbereitung
  • Kochen der Ayahuasca (moca jene, rau)
  • Wahl des Ortes und des Zeitpunktes
 
1. Phase - Die Reise in die visionäre Welt 
  • Ansprache des Schamanen (nishi sheamis, »Ayahuasca-Trinker«)
  • Gebet an die »Meister-Pflanzen« (plantas maestras) des Ortes
  • Weihe der Ayahuasca mit Worten und Tabakrauch
  • Verteilung der Ayahuasca-Dosen
  • Beblasen der Teilnehmer mit Tabakrauch
  • Singen des ersten Ayahuasca-Liedes (huehua)
  • ggf. Behandlung mit Duftstoffen (Aroma-Therapie)
  • Diagnose mit »Röntgenblick«
 
2. Phase - Katharsis (Reinigung)
  • Singen des zweiten Ayahuasca-Liedes
  • Auslösen von Erbrechen
  • ggf. Einzelbehandlungen mit speziellen Heilgesängen
  • Extraktion von Krankheitsursachen (chonta-Pfeile etc.)
  • Eingriff des Schamanen in psychische Strukturen [durch seine schamanische Heilkraft (ani shinan)]
  • Tabakrauch-Therapie
  • ggf. Empfang eines eigenen persönlichen Ayahuascagesanges
 
3. Phase - Rückkehr in die sichtbare Welt
  • Singen des dritten Ayahuasca-Liedes
  • ggf. Behandlung mit Duftstoffen (Aroma-Therapie)
  • Beendigung des Rituals
 
Nachbesprechung am nächsten Vormittag
  • Gemeinsame Gespräche und Kommentare des Schamanen im Kreis
 
Folgezeit
  • (künstlerische) Umsetzung der Visionen (mitquené-Mustern)

 

Literaturverzeichnis (Auswahl)

ANDRITZKY, Walter
1989 »Ethnopsychologische Betrachtung des Heilrituals mit Ayahuasca (Banisteriopsis Caapi) unter besonderer Berücksichtigung der Piros (Ostperu)« Anthropos 84: 177-201.
1995 »Sakrale Heilpflanze, Kreativität und Kultur: indigene Malerei, Gold- und Keramikkunst in Peru und Kolumbien« Curare 18(2): 373-393.
ARÉVALO VALERA, Guillermo
1989 »Gedanken zur traditionellen Medizin« in: Ch. KOBAU (Hg.), Amazonas – Mae Mañota, S. 179-181, Graz: Leykam.
1994 Medicina indígena Shipibo – Conibo: Las plantas medicinales y su beneficio en la salud. Lima: Edición Aidesep.
BELLIER, J.
1986 »Los cantos Mai Huna del yajé (Amazonía Peruana)« América Indígena 46: 129-145.
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1993 »Plants in Association with Ayahuasca« Jahrbuch für Ethnomedizin und Bewußtseinsforschung 2: 21-42, Berlin: VWB.
CALLAWAY, James
1995 »Pharmahuasca and Contemporary Ethnopharmacology« Curare 18(2): 395- 398.
DELTGEN, Florian
1993 Gelenkte Ekstase: Die halluzinogene Droge Cají der Yebámasa-Indianer. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
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1996 Leben und Sterben in Amazonien: Bei den Jivaro-Indianern. Stuttgart: Klett-Cotta.
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1972 Visionary Vine: Hallucinogenic Healing in the Peruvian Amazon. San Francisco: Chandler.
1981 »Socio-Economic Characteristics of an Amazon Urban Healer's Clientele« Social Sciences and Medicine 15B: 51-63.
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1992 Amazon Healer: The Life and Times of an Urban Shaman. Bridport, Dorset: Prism Press.
GEBHART-SAYER, Angelika
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1987 Die Spitze des Bewußtseins: Untersuchungen zu Weltbild und Kunst der Shipibo-Conibo. Hohenschäftlarn: Klaus Renner Verlag.
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1995 »Ayahuasca – Ethnobotany, Phytochemistry and Human Pharmacology« Integration 5: 73-97.
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1994 »Ayahuasca: Der Zaubertrank« Geo Special: Amazonien 5/94: 62-65.
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1989 »Meisterpflanze Ayahuasca« in: Ch. KOBAU (Hg.), Amazonas: Mae Mañota, S.182-183, Graz: Leykam.
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1997 »Schwarz und Ziegelrot: Gerbstoffe in der Färbekunst Europas und Südamerikas« Kultur & Technik 2/97: 50-57.
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Abbildungen/Dia-Legenden

1) Die Shipibo befahren die Laguna Yarinacocha und die anschließenden Wasserwege des auslaufenden Amazonasbeckens mit ihren archaischen Einbäumen.
(Foto: C. Rätsch)
2) Shipibo-Frauen tragen mit Ayahuasca-Mustern bestickte Wickelröcke.
(Foto: C. Rätsch)
3) Shipibo-Schamanen bei der Suche nach Meister- und Heilpflanzen im Dschungel.
(Foto: C. Rätsch)
4) Die Ayahuasca-Liane (Banisteriopsis caapi) wächst zwar auch wild im Wald, wird aber wegen der großes Bedarfs von Schamanen in ihren Hausgärten oder sogar auf Plantagen kultiviert.
(Foto: C. Rätsch)
5) Der Chakruna-Strauch (Psychoatria viridis) wird wegen seines DMT-Gehaltes kultiviert.
(Foto: C. Rätsch)
6) Der eingekochte Ayahuasca-Trank hat eine braune Farbe und schmeckt bitter und adstringierend. Man hat das Gefühl, die Essenz des Waldes zu trinken.
(Foto: C. Rätsch)
7) Der Lupuna genannte Weltenbaum überragt alle anderen tropischen Baumriesen.
(Foto: C. Rätsch)
8) Bei indianischen und synkretistischen Ayahuasca-Ritualen wird viel Tabak geraucht. Bevorzugt wird der sehr nikotinhaltige Mapachotabak, eine amazonische Spezialität. Die daraus gedrehten Zigaretten werden liebevoll mapachitos genannt.
(Foto: C. Rätsch)
9) Der berühmte peruanische Ayahuasquero Don Agustín Rivas spielt zugleich eine Panflöte und eine Trommel bei einer nächtlichen Zeremonie.
(Foto: C. Rätsch)
10) Eine Shipibo-Frau bemalt aus freier Hand ein großes Stück Baumwollstoff für die Herstellung einer Tunika mit den typischen Ayahuasca-Mustern.
(Foto: C. Rätsch)
11) Gemalte Ayahuasca-Muster auf einem Stoff der Shipibo.
(Foto: C. Rätsch)
12) Eine mit Ayahuasca-Mustern verzierte Holzpuppe der Shipibo.
(Foto: C. Rätsch)
13) Die Malerei eines jungen Künstlers aus der Malschule von Pablo Amaringo (USKO-AYAR in Pucallpa) zeigt die Dschungelwelt mit einer Hütte für Ayahuasca-Rituale.


Dieser Text ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung von
Christian RÄTSCH, »Ayahuasca, oder: die Reise zum Ursprung der Kultur – Psychoaktive Therapie bei den Shipibo-Indianern«, in: Christine GOTTSCHALK-BATSCHKUS & Christian RÄTSCH (Hg.), Ethnotherapien – Ethnotherapies, Berlin: VWB (Curare Sonderband 14/98), S. 136-144, 1998.

[1] Die folgenden Ausführungen basieren hauptsächlich auf eigenen Beobach­tun­gen und Ayahuasca-Erfahrungen, die ich im Sommer 1997 an der Laguna Yarinacocha machen konnte. Dabei bin ich vor allem Guillermo Arévalo zu tiefstem Dank verpflichtet. Seine Ayahuasca ist besonders stark.
[2] siehe dazu DOBKIN DE RIOS 1970, 1972, 1981 und 1992, LUNA 1984, 1986 und 1991, MCKENNA 1993.
[3] In Amazonien werden verschiedene Bäume volkstümlich lupuna genannt; bei den Shipibo wird meist Chorisia speciosa als shono bzw. lupuna bezeichnet (ILLIUS 1991: 243).
[4] siehe dazu BELLIER 1986, KATZ & DOBKIN DE RIOS 1971, LUNA 1992; spezielle Musik (Trommeln, Obertongesänge, Techno/Psychedelic Trance, Acid Rock usw.) wird weltweit zu Vertiefung der visionären Erfahrung eingesetzt.
[5] Diese Gesänge heißen bei den urbanen Mestizo-Ayahuasqueros icaros. Die Shipibo mögen dieses Wort nicht gerne benutzen, denn ihre Gesänge sind voll­kommen anders als die europäisch beeinflußten Lieder der Mestizen (LUNA 1992).
[6] Auch westliche Psychiater und Psychotherapeuten haben begonnen, Ayahuasca – nach mehr oder weniger indianischem Modell – therapeutisch zu nutzen, u.a. bei Suchtkrankheiten (CALLA­WAY 1995, WEISKOPF 1995).
[7] vgl. ARÉVALO 1994, BIANCHI & SAMORINI 1993, LIGON 1998, MCKENNA et al. 1995, OTT 1995, RÄTSCH 1997a.

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